
Grußwort von Dr. Tim Grüttemeier Städteregionsrat
Sehr geehrte Damen und Herren,
der Drache ist eine seit Beginn der Menschheit mythologisch überhöhte Figur, die sich durch fast sämtliche Kulturkreise zieht. Die älteste schriftliche Erwähnung stammt rund um das Jahr 2600 vor Christus aus dem asiatischen Raum. Seien es die biblisch-alttestamentarische Erzählungen, die britische Sage der Ritter der Tafelrunde oder auch die Nibelungensage: Die Figur des Drachen kommt immer wieder vor. Dabei ist der Drache oft Inbild der Bösen. So heißt es in der Offenbarung des Johannes: „Ein anderes Zeichen erschien am Himmel: ein Drache, groß und feuerrot, mit sieben Köpfen und zehn Hörnern…“ Interessant ist, dass der Drache in der östlichen Mythologie eine ambivalentere Bedeutung hat. So galt er im chinesischen Reich eben auch als Symbol der Macht und letztlich des Kaisers.
Wenn ich an den Westwall denke, der im Volksmund ja oft als „die Drachenzähne“ beschrieben wird, fällt mir eine ambivalente Betrachtung sehr schwer. Zu eindeutig steht er für die kriegerische Expansionspolitik des nationalsozialistischen Unrechtsstaates. Einer Diktatur, von der sich die Deutschen nicht aus eigener Kraft befreit haben. Die Befreiung geschah in der Aachener Region vor fast genau 76 Jahren durch die Alliierten, die bei Roetgen erstmals deutsches Gebiet betraten. Nur Tage später konnten sie auch den Westwall überwinden. Dennoch folgten weitere erbitterte Kämpfe, bei denen viele Menschen, in diesem von Deutschland ausgehenden Krieg, ihr Leben lassen mussten.
Doch tatsächlich haben diese Drachenzähne in den Folgejahren eine weitere Bedeutung erhalten. Denn überwuchert von der Natur und mit Kühen, die zwischen ihnen weiden, haben sie ihren Schrecken verloren. Sie zeigen uns aber immer noch, dass wir an der Grenze leben. An einer fast unsichtbaren Grenze, bis die Corona-Pandemie sie uns mit einer nicht mehr für möglich gehaltenen Deutlichkeit vor Augen geführt hat.
Vor diesem Hintergrund und wenn ich an den in vielen europäischen Ländern aufkeimenden Populismus und Nationalismus denke, ist das soziale Kunstprojekt „Drachenzähne in Farbe“ gerade in Corona-Zeiten ebenso wichtig wie wertvoll. Die herausragenden Aktionen von Schülern und Künstlern, die der Rheinische Verein organisiert, zeigen deutlich, dass der Westwall eben doch das Potential einer zukunftsgerichteten Ambivalenz in sich trägt. Aus feindlichen Motiven gebaut, wird er in diesen Tagen zum Treffpunkt von Freunden. Oder: Aus der zerstörerischen Kraft der Drachenzähne wird jetzt ein buntes Symbol des Friedens in Europa.
In diesem Sinne wünsche ich der tollen Aktion viel Erfolg!
Ihr Dr. Tim Grüttemeier
(Städteregionsrat)