Foto: Clarissa Ponz

Drachenzähne – In Farbe

Drachenzähne – In Farbe war ein soziales Kunstprojekt anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung von den Nationalsozialisten. Von Herzogenrath bis Hellenthal erinnerten wir zum Tag des Denkmals am 13. September 2020 an fünf Orten an dieses Geschenk der Freiheit. Die ausgesuchten Orte verbindet eine bauliche Gemeinsamkeit: der Westwall. Einst gebaut, um benachbarte Feinde abzuhalten, wurde er an diesem Tag zu einem Treffpunkt von Freunden.

Der Westwall gehört zu den umfangreichsten Befestigungsanlagen, die zwischen den Weltkriegen erbaut wurden. Auf rund 630 Kilometern Länge erstreckte er sich einst vom Kreis Kleve am Niederrhein entlang der niederländischen und belgischen Grenze bis zur schweizerischen Grenze bei Weil am Rhein. Neben den unzähligen Bunkern gehören auch mehrreihige Höckerlinien aus Beton zum Westwall. Pyramidenförmig ragen sie bis zu einer Höhe von 1,50 m aus der Erde.

Teile dieser Abwehranlage sind bis heute erhalten. Wie ein langes Band entlang der Grenzen ragen die Betonzähne noch immer gut sichtbar aus der Landschaft heraus. Der Westwall ist heute einer der größten baulichen Hinterlassenschaften der nationalsozialistischen Diktatur. Sein Anblick erinnert an die Zahnreihen oder Rückenschuppen eines riesigen Drachens. So prägte sich im Volksmund der Begriff Drachenzähne als eine Bezeichnung für die Höckerlinie.

Als „integrierter Störenfried“ ist er mehr und mehr mit der Landschaft verschmolzen. An vielen Stellen hat die Natur die Bunker und Betonzähne nahezu komplett überdeckt. Ein wertvolles Biotop, das zum Rückzugsort für bedrohte Tiere und Insekten geworden ist.

An den Orten, wo der Westwall heute noch sichtbar ist, haben sich unsere Blicke längst an seine Existenz gewöhnt. Ein landschaftliches Bodendenkmal und Mahnmal, das uns an die größenwahnsinnige Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten erinnert.

Doch was bewirkt diese in Beton gegossene Erinnerung heute noch? Eine Chance für die Natur und eine Möglichkeit für eine lebendige Erinnerungskultur? Das soziale Kunstprojekt Drachenzähne – In Farbe näherte sich diesen Fragen auf künstlerische Weise an. An fünf Orten wurden Abschnitte des Westwalls von Künstlerinnen und Künstlern zusammen mit Kindern und Jugendlichen temporär in Szene gesetzt. Dabei blieb der Westwall stets Ausgangspunkt für das Erinnern an die dunkelste Zeit unserer Geschichte und öffnete den Blick für das kostbare Gut, in Frieden und Freiheit leben zu dürfen.

Monate und Wochen arbeiteten unterschiedliche Gruppen und Akteure darauf hin, an ausgesuchten Stellen die Drachenzähne des Westwalls besonders in Szene zu setzen. Das gemeinsame Erinnern und das Bewusstsein, dass sich dieser Teil unserer Geschichte nicht wiederholen darf, verband alle fünf Ausstellungsorte.

Die künstlerische Auseinandersetzung richtete auch einen kritischen Blick auf des Hier und Jetzt. Wo liegen heute die Gefahren für den Frieden und die Freiheit in unserer Gesellschaft? Die künstlerischen Installationen luden ein zum Schauen, Verweilen, Begegnen und zum Diskutieren.

Herzogenrath: Käfer

Zwischen gestern und morgen: Die eindeutige Symbolik eines Käfers auf dem Rücken, der aus eigener Kraft nicht mehr auf die Beine kommt, verweist durch seine Verortung auf dem brutalen, nackten Beton der Weltkriegsfrontlinie direkt auf das Deutschland der NS-Zeit, einer Gesellschaft am Rande: Unmündig, blockiert, bewegungsunfähig.

Gebaut wurde der große, in verschiedenen Grüntönen leuchtende Käfer aus Holz von den Künstler:innen Vera Sous, Ana Sous und Thomas Bortfeldt zusammen mit der Ahoi-Gruppe. Sie alle bilden einen lockeren Zusammenschluss von Privatpersonen mit interkulturellem Hintergrund, die seit 2015 gemeinsam soziokulturelle Kunstprojekte mit partizipativem Charakter realisieren und so aktiv an gesellschaftlichen Diskursen teilhaben.

Begleitet wurde die Installation am Tag der Eröffnung von Musik der Tempelsingers und der Band Rooty Blues sowie vom Puppentheaterstück Der Engel mit nur einem Flügel des Theaters Töfte. Es erzählt von den Erinnerungen aus der Kindheit des jüdischen Jungen Robert Goldstein. Ein berührendes, vielfach ausgezeichnetes Stück, das auch Kindern im Grundschulalter bereits in altersgerechten Ansätzen die Gräuel des Krieges zu vermitteln vermag.

Aachener Wald: Frozen in History / Grenzlage

Wie verflüchtigen und verändern sich Worte und wann verlieren sie an Sinn und Bedeutung, sobald man nur ein wenig seine Position ändert? Dringen die Worte der Erinnerung und des Friedens noch bis zu uns durch? Erkennt man sie erst, wenn man Position bezieht?

Diesen Fragestellungen rund um Blickwinkel und die Kraft der Worte folgten die Schülerinnen und Schüler des Berufskollegs für Gestaltung und Technik in Aachen mit ihrer Lehrerin Dorette Christfreund und dem Künstler Philip Wallisfurth in der Installation Frozen in History. Musikalisch begleitet wurde ihre Ausstellung mit Musik und Gesängen von Talal Mohrat and family.

Nach einem Land Art-Workshop mit dem Waldpädagogen Michael Zobel, bei dem es neben dem Geschichtsbewusstsein auch um die Verantwortung gegenüber der Natur ging, und einer Auftaktveranstaltung in der Bleiberger Fabrik entstanden in den Werkstätten vom Spectrum und der low-tec dreißig Westwall-Höcker aus Holz. Diese wurden anschließend in einer Projektwoche von den Schülerinnen und Schülern gestaltet.

Nicht weit von dort, auf dem Gelände des KuKuK, einem Kulturverein auf der Grenze zwischen Belgien und Deutschland, entstand ein temporäres Zelt- und Barackenlager. In der Installation Grenzlage wagten die Jugendlichen der Produktionsschule Tuchwerk eine künstlerisch-kreative Annäherung an die Problematik der Flüchtlingslager an den Grenzen und außerhalb Europas und an die dort herrschenden unwürdigen Lebensbedingungen.

Das kleine Barackenlager hier musste glücklicherweise nie bewohnt werden, doch bewegten sich die Besucherinnen und Besucher um die Zelte oder wagten gar einen Blick hinein, erhielten sie Einblicke in das Leben von Menschen, deren aktuelle Grenzlage kaum auszuhalten ist. Die Geschichten und Bilder wurden eingebracht vom Aachener Netzwerk für humanitäre Hilfe und interkulturelle Friedensarbeit e.V. und vom Café Zuflucht.

Roetgen: Frieden first / Traumsteine

Neun große bunte Westwall-Höcker, die immer wieder in Roetgen auftauchten: Sie waren das erste künstlerische Ergebnis des Drachenzähne-Projektes. Gebaut in den Spectrum-Werkstätten wurden sie von Kindern der Grundschulen Roetgen und Raeren (beiderseits der deutsch-belgischen Grenze) mit Unterstützung der niederländischen Künstlerin Krista Burger.

Bereits 1944 wurde Roetgen als erste Gemeinde Deutschlands durch amerikanische Soldaten von den Nationalsozialisten befreit. Gemeinsam wollten sich die Grundschulen Roetgen und Raeren unter dem Titel Frieden first am Gedenken beteiligen und stellten unter der Leitung des belgischen Theaterpädagogen Jörg Lentzen ein kleines Theaterstück auf die Beine, das auf Zeitzeugenerinnerungen basierte. Die neun nachgebauten Höcker waren in diesem Stück nicht einfach nur Requisite und Absperrung – sie wurden zum Treffpunkt von Freunden. Am 13. September 2020 waren sie an verschiedenen Orten in Roetgen zu sehen.

Während Nachbauten der Westwall-Höcker in Roetgen verteilt waren, wurden die Höcker selbst neu eingekleidet. Circa 20 von ihnen erhielten ein neues buntes Gewand. Genäht wurden diese von Jugendlichen der Jugendwerkstatt Stolberg, die junge Menschen darin unterstützen, eine Berufs- und Lebensperspektive zu finden.

Ihre bunte Bemalung erhielten die Traumsteine von Kindern und Jugendlichen aus Roetgen und Eupen unter der Leitung der belgischen Künstlerin Jana Rusch, in deren bunten und fantasievollen Werken das Thema Grenze immer wieder auftaucht. Bunt und fantasievoll waren auch die Werke der Kinder und Jugendlichen, die ihre Träume auf die Stoffe malten und diese über die Betonhöcker zogen – und damit den bösen Traum und den Größenwahn eines Unrechtsregimes, das Tod und Elend über Europa gebracht hatte, verhüllten.

Traumhaft war auch der Auftritt des Zirkus’ Clap, der die Besucherinnen und Besucher zwischen den Drachenzähnen mit seinen Seifenblasen verzauberte. Kinder der In Via OGS Roetgen hatten alte Koffer mitgebracht. Unter der Leitung von Monika von Bernuth waren sie mit Ideen und Gegenständen bestückt worden, die es im Traumland der Kinder unbedingt geben müsste und die sie mit auf ihre Reise nehmen würden.

Simmerath: Begegnung

Wie kaum an einer anderen Stelle der Region begegnen sich an den Drachenzähnen in Simmerath Denkmal und Natur. Die Jugendlichen aus der Floristenwerkstatt der Produktionsschule VaBW Alsdorf wollten im Projekt Begegnung die Sprache der Natur sichtbar machen und umwickelten einige der Höcker mit bunten Blumen. Jede noch so kleine Blüte sollte daran erinnern, dass jedes Lebewesen schützenswert ist und erst die Vielfalt und die Unterschiedlichkeit das Leben bunt und wertvoll machen.

Wie wichtig uns Menschen die Begegnung mit anderen ist, wurde uns gerade in der Coronazeit wieder schmerzlich bewusst. So wurden in dieser Zeit in der Spectrum-Holzwerkstatt dreißig kleine Höcker nachgebaut, damit sie in den Kindergärten Sonnenblume, Arche Noah und Wackelzahn bemalt werden konnten. Die vielen kleinen Begegnungsszenen der jungen Künstlerinnen und Künstler konnten die Besucherinnen und Besucher am 13. September 2020 inmitten der Simmerather Natur bestaunen.

Dazu lud der Eifelverein Simmerath zur Westwallwanderung ein und auf die Besucherinnen und Besucher warteten drei große bunte Löwendrachen aus der Kung-Fu-Schule Vadao Vietnam in Aachen. Gemeinsam lauschten sie mit Kindern und Eltern den Abenteuern des Raben Roderich aus dem Theater 1001, der mutig gegen einen Drachen kämpfte und dabei Groß und Klein zum Lachen brachte.

Hellenthal: African Picknick

Für das African Picknick am Tag des offenen Denkmals hüllten Männer und Frauen aus dem Schneideratelier der WABe e.V. Aachen einige Westwallhöcker in bunte Gewänder. Und nicht nur das! Die Höcker breiteten sich über die große Wiese aus. Einst wurden die Betonhöcker gebaut, um den Feind abzuhalten; nun luden ihre vielen weich gefütterten Pendants aus Stoff dazu ein, es sich auf der großen Picknickwiese gemütlich zu machen.

Genäht wurden diese Sitzhöcker aus bunten Stoffen der Misereor-Hungertücher. Die Motive der hier vernähten Hungertücher stammten von den afrikanischen Künstlern El Loko und Azaria Mbatha. Beide verstehen sich als Brückenbauer zwischen der afrikanischen und europäischen Kultur.

Zwischen den bunten Tupfern aus Stoff tanzten die Puppen – im wahrsten Sinne des Wortes! Marionetten der Corsten Jugendhilfe GmbH und eine überlebensgroße Marionettenfigur des burkinischen Künstlers Adama Yé brachten die Besucherinnen und Besucher zum Staunen. Der angebotene Percussion-Workshop des Aachener Musikers Moses Christoph von der Musikschule mufab in Aachen schaffte die passende musikalische Atmosphäre.

Und natürlich macht erst das Essen ein Picknick zum Picknick: Unser Dank gilt den Hellenthaler Landfrauen und Pfadfinder:innen für ihre Unterstützung.

Esther Bejarano und die Microphone Mafia

Schon einen Tag vor den Feierlichkeiten rund um den Tag des Denkmals machten Esther Bejarano und Rosario Pennino, Kutlu Yurtseven und Joram Bejarano von der Microphone Mafia uns mit ihrem Auftritt in der Aachener CityKirche eine große Freude. Mit ihrer Musik und Lesung eröffneten sie das Projekt Drachenzähne – In Farbe und setzten ein starkes Zeichen für Toleranz, Menschlichkeit und Freiheit.

Esther Bejarano überlebte als junge Frau das Konzentrationslager Auschwitz, weil sie dort im Frauenorchester Akkordeon spielte. Mit ihrem Gesang und ihren Erzählungen erinnerte sie bis zu ihrem Tod unermüdlich an die Schrecken der Nationalsozialisten und an ein Lager, in dem Millionen von Menschen den Tod fanden.

Im Vorfeld des Auftritts hatte Kutlu Yurtseven für Jugendliche der Produktionsschule low-tec einen Rapworkshop angeboten. An zwei Tagen hatten sich die jungen Menschen mit Themen rund um Rassismus und Ausgrenzung auseinandergesetzt. Entstanden waren Texte, die die Lebenswelten der Jugendlichen thematisierten.

Am 10. Juli 2021 ist Esther Bejarano gestorben. Wir gedenken einer großen Frau, deren Musik ihr ständiger Begleiter im Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus war. Sie war und ist ein Schlüssel zu den Erinnerungen an all die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges, deren Grausamkeit nur schwer in Worte zu fassen ist. Esther Bejaranos Vermächtnis ist eines von Toleranz und einem Miteinander in Frieden und Freiheit.